ein Gastbeitrag von Jakob Kießling
Ich erinnere mich nicht an viel aus der fünften Klasse. Vielleicht an den ersten Schultag, aber auch nur ein bisschen. In der Turnhalle trafen wir das erste Mal unsere neuen Lehrer*innen und an den Türen zu unseren Klassenzimmern hingen bunte Willkommensplakate. Mein Rucksack war rot, meine Hose beige. Die Farbe meiner Jacke weiß ich nicht mehr. Während der Kennenlerntage habe ich mich mit jemandem gestritten und dann später im Schuljahr auch nochmal, aber so richtig. An den Unterricht erinnere ich mich eigentlich gar nicht mehr, nur an meinen Geolehrer und die Angst vor der Englischstunde.
Ich war nicht furchtbar schlecht in Englisch, aber auch nicht gut. Mittel halt. Meine Lehrerin oder mein Lehrer kann nicht so schlimm gewesen sein, dass er oder sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Nur die Abfragen, an die erinnere ich mich noch, und an die Abende davor, wenn ich am Wohnzimmertisch kniete und die Vokabeln wieder und wieder und wieder abschrieb, weil ich sie doch können musste, weil der Versuch und die Mühe alleine nichts zählten, nichts brachten. In der Stunde selbst war Green Line 5 dann so lange auf meinem Tisch und meine Augen auf der Vokabelliste, bis wir das dritte Mal ermahnt wurden, unsere Bücher wegzupacken. Mein Herz schlug immer schneller, in den langen Momenten, in denen die Liste durchgegangen wurde, auf der auch mein Name stand. Und dann ging ein erleichterter Seufzer durch die Klasse, oder vielleicht auch nur durch mich, wenn endlich jemand aufgerufen wurde, jemand, der nicht ich war.
Manchmal waren es sogar zwei Schüler*innen, die da hinter der Tafel standen und, damals noch mit Kreide, englische Wörter ordentlich untereinanderschrieben oder es zumindest versuchten. Wir verbesserten ihre Fehler danach gemeinsam, das sagte man uns jedenfalls. Mein Lehrer oder meine Lehrerin nahm eine rote Kreide und dann wurden Rechtschreibfehler gezählt, korrigiert, durchgestrichen. Ich sah ängstlich zu wie Wort für Wort kritisch beäugt wurde, und dachte im Stillen, dass ich das auch alles falsch gemacht hätte, dass ich nicht wusste, wie man das schrieb und dass ich das nächste Mal derjenige sein könnte, der hinter der Tafel zitterte.
Ich hasste die Abfragen. Ich hasste den Englischunterricht und ich hasste die Sprache selbst. Die Stunden im Klassenzimmer schienen nicht vorbeigehen zu wollen, genauso wenig wie das Lernen zuhause, wenn ich unter Tränen versuchte, mir unregelmäßige Verben einzuprügeln. Und wenn es mir nicht gelang, wenn ich die Grammatik nicht verstand, dann folgte die Strafe auf dem Fuß, in der nächsten Stunde, in der ich darauf wartete, ob mein Name fallen würde, ob ich nach vorne kommen und mich blamieren musste. Nach ein paar Monaten hörte ich schließlich auf, Vokabeln zu lernen.
Jetzt bin ich 17 und kein Kind mehr, auch wenn das beides etwas plötzlich kam. Die Tage des qualvollen Englischunterrichts sind lange vorbei. Ich sitze nicht mehr still in der letzten Reihe, sofern ich das je getan habe, und Englisch kann ich mittlerweile auch ziemlich gut. Insgesamt bin ich kein schlechter Schüler und auf jeden Fall kein fauler. Im Mai mache ich Abi. Auch das wird vermutlich überraschend kommen. Viel hat sich geändert in den letzten acht Jahren und mittlerweile beschleicht mich die Befürchtung, dass ich die Zeit an dieser Schule wohl vermissen werde. Und trotzdem, immer noch, sind Abfragen ein Problem für mich.
Ich glaube, dass ich, nachdem ich die erste Schüchternheit in der fünften Klasse überwunden hatte, mit so ziemlich jeder Lehrkraft diskutiert habe, die irgendwann mal irgendjemanden abgefragt hat. Wirklich erfolgreich waren meine Bemühungen nie und meine Herangehensweise war vermutlich auch nicht sonderlich intelligent. Offensichtlich schätzen es Lehrer*innen im Regelfall nicht, wenn man ihre Entscheidungen vor der Klasse hinterfragt. Ich glaube, sie befürchten, ihre Autorität könnte dadurch untergraben werden. Mir war das relativ egal. Ich war sauer und zunehmend frustriert, also brachte ich das Thema immer wieder an, sprach mit einem Deutschlehrer, der mich anschrie, einer Chemielehrkraft, die die Diskussion so schnell wie möglich abwürgte, und einer Mathelehrerin, die mir brüsk mitteilte, in meinem Alter müsse man mit so einer Kleinigkeit wie einer Abfrage nun mal umgehen können.
Aber was passiert mit denen, die das eben nicht können? Was ist mit denen, für die Abfragen keine Kleinigkeit sind? Mein Problem mit Abfragen ist mittlerweile weniger persönlich, nicht mehr ganz so von Angst getrieben wie damals in Englisch, obwohl mein Herz immer noch stehen bleibt, wenn ich am Anfang der Stunde meinen Namen höre. Nein, mir geht es inzwischen um etwas viel Grundsätzlicheres. Mir geht es um die Einstellung dahinter. Mir geht es darum, dass sich, egal wie gut ich argumentiert habe, egal wie freundlich ich geblieben bin, egal wie wichtig es mir war, kaum eine Lehrkraft die Mühe gemacht hat, mir zuzuhören.
Ich bin kein fauler Querulant und ich habe im Regelfall nichts gegen diejenigen, die es für nötig halten, abzufragen. Im Gegenteil, häufig gefällt mir ihr Unterricht und ich halte sie für klug, höre ihnen gerne zu. Manche mag ich persönlich, manche haben mir in den letzten Jahren wirklich geholfen. Irgendwie macht es das noch schlimmer. Ich verstehe nicht, warum an so vielen jedes Gegenargument, jeder Alternativvorschlag abzuprallen scheint, als wären Abfragen eine pädagogische Notwendigkeit, geradezu eine Glanzleistung.
Meine Anteilnahme hält sich aber auch in engen Grenzen, wenn mir eine Lehrkraft weiß machen möchte, dass sie „doch eigentlich auch nicht gerne abfragen würde“, während im Hintergrund gerade jemand vor der Klasse steht und weint. Ich empfinde kein Mitleid für meine Lehrer*innen, wenn sie sich darüber beklagen, zu wenig Zeit für ihren Stoff zu haben, nachdem sie eben noch sichergestellt hatten, dass höchstens eineinhalb Menschen im Raum arbeiten konnten, während der Rest der Belegschaft eine halbe Stunde lang ins Leere starrte. Alles für eine einzige Note.
Niemand zwingt Sie dazu, abzufragen. Es fordert Sie auch niemand dazu auf, das Kultusministerium zu stürmen und das ganze Schulsystem niederzubrennen. Ich jedenfalls tue das nicht. Nein, alles worum ich Sie bitte, ist Verständnis. Ich will, dass Sie sich an Ihre Zeit am unteren Ende des Machtgefälles erinnern, wenn Sie gerade dabei sind, vor der Klasse Kommentare über einen Schüler oder eine Schülerin abzulassen, der oder die Ihren Leistungsanforderungen nicht entsprechen konnte. Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, was Abfragen für Ihre Schüler*innen bedeuten, bevor Sie einen lockerflockigen Witz darüber machen, dass heute wohl der Schüler ausgefragt werden würde, der eben panisch wissen wollte, ob Sie für diese Stunde eine Abfrage geplant haben.
Das ist es nämlich, was sie provozieren: Panik, Angst und Stress, hektisches Bulimie lernen in der Pause oder während der Vorstunde, Schüler*innen, die sich, nachdem sie in der ersten Woche nach den Ferien abgefragt wurden, zurücklehnen und in dem Halbjahr nie wieder für Ihr Fach lernen, weil es ihnen so beigebracht wird, weil permanent die Unterstellung im Raum steht, sie würden ihren Hintern nur hochkriegen, wenn man ihnen gehörig Feuer darunter macht. Man verinnerlicht diese Denkweise. Ich habe das jedenfalls getan, auch wenn ich sie eigentlich etwas beleidigend finde.
Mir ist bewusst, dass Sie „Ihre Noten brauchen“. Das wurde mir oft genug als finales, schlagendes Argument präsentiert, um zu untermauern, dass man als Lehrer*in einfach keine andere Wahl habe. Ich weiß auch, dass es wohl Schüler*innen gibt, die zwar Angst vor Tests, aber nicht vor Abfragen haben und mir ist klar, dass wir nicht alle Menschen glücklich machen können, aber warum bedeutet das, dass wir so viele wie möglich unglücklich machen müssen?
Grundsätzlich halte ich es für eine kluge Idee, sich hin und wieder zu fragen, ob die eigenen Handlungen auch dann noch okay wären, wenn alle anderen genauso handeln würden. Ist das nicht der Fall, sollte man sich eventuell Gedanken machen, um dann ein wenig Kant zu lesen und zwar nicht nur die abgemagerte Version, die ich gerade vorstelle. Wenn Sie also regelmäßige Tests schreiben, vielleicht alle paar Wochen, müssen Sie davon ausgehen, dass das alle anderen Lehrer*innen an dieser Schule auch so halten. Für Schüler*innen, die Angst vor angekündigten Tests haben, bedeutet das, sagen wir mal, ein- bis zweimal pro Woche eine Erhöhung ihres Stresspegels. Das ist doof. Wenn Sie allerdings abfragen, muss Ihnen klar sein, dass das nicht nur während der Abfrage Stress bedeutet, sondern vor und in jeder einzelnen Stunde, in der ein Schüler oder eine Schülerin auch nur befürchten muss, dass es sie oder ihn erwischen könnte. Fragt jede Lehrkraft ab, sorgt das sorgt für Angst und zwar mehrmals am Tag, jeden Tag der Woche.
Das ist die Realität, die Sie schaffen. Jede Stunde wird zur Leistungssituation. Ich kann keine Fehler im Matheunterricht machen, mich im Stillen über meine Dyskalkulie ärgern und mir sicher sein, dass ich das schon noch verstehen werde, am Wochenende, wenn ich Zeit habe, wenn die Wirtschaftsklausur vorbei ist und ich Nachhilfe hatte. Ich kann nicht in Ruhe lernen. Nein, mir ist klar, dass ich den Stoff übermorgen können muss, ohne Wenn und Aber, egal, wie ausführlich er mir erklärt wurde, egal, ob ich in der Stunde mitgekommen bin. Es ist irrelevant, wie viel Mühe ich mir mache und wie sehr ich mich verbessere. Die Abfrage bildet nur einen Moment ab, mein langfristiger Lernerfolg bleibt auf der Strecke. Keine Ausrede zählt. „Du hattest keine Zeit? Du schreibst diese Woche zwei Klausuren, drei Tests und hältst fünf Referate? Egal, du willst mich veräppeln, meine Gutmütigkeit ausnutzen, dich rausreden. Regelmäßige Tests kann ich aber auf keinen Fall schreiben. Da fehlt mir die Zeit zum Korrigieren.“ Ich könnte weiter machen, noch zehn Seiten lang, so oft habe ich schon über dieses Thema nachgedacht. Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher, was genau ich mit diesem Kommentar oder Essay oder was auch immer das hier ist, bezwecke. Vielleicht geht es mir vorranging um meine Psychohygiene und meinen Blutdruck, für den acht Jahre aufgestauter Frustration einfach nicht gut sein können. Mir ist auch wichtig, Schüler*innen dazu aufzufordern, ihren Mund aufzukriegen, wenn sie etwas stört und sich nicht nur leise untereinander zu beklagen. Abfragen sind nichts Gottgegebenes. Sowas kann man ändern, wenn man nur will. Aber eigentlich glaube ich, dass ich diesen Text für die Lehrer*innen geschrieben habe, die ihn vielleicht, hoffentlich ganz gelesen haben. Ich möchte Sie zum Nachdenken bringen. Ich möchte, dass Sie sehen, dass die Perspektive Ihres 70jährigen Seminarlehrers von damals nicht die einzige ist, sondern dass in Ihrer Klasse Schüler*innen wie ich sitzen, die unter Ihren Abfragen leiden, egal wie albern Sie das finden. Das alleine, jede Träne, die in Ihren Abfragen je geweint wurde, sollte eigentlich schon Grund genug sein, ins Grübeln zu kommen.