von Sianna
Niemand spricht zu ihr, wie sie dort sitzt. Sie bemüht sich nicht, ihren bemitleidenden Blicken auszuweichen, denn sie sieht sie kaum. Stumm sitzt sie, die Staubpartikel vor ihren Augen tanzen im Sonnenlicht. Sie mag das Gefühl der Wärme auf ihrer Haut – sie hat es schon oft gespürt, es ist ihr vertraut. Auch die Stimmen der Leute, die sie so unsicher ansehen, klingen bekannt – und doch erkennt sie sie nicht. Sie müsste sie kennen, die Kinder, die auf dem Grün herumtollen, die älteren, die sich so angeregt unterhalten, während sie reihum die Gläser zu den Mündern führen. Sie hat kein Glas bekommen, sie möchte auch keines. Sie möchte die Blumen betrachten, die nicht weit von ihr entfernt blühen, sie müsste nur die Hand ausstrecken – so nah sind die Blumen.
Doch sie ist ja gar nicht hier. Sie ist gefangen. Dort wo sie gefangen ist, spielen Kinder auf dem Rasen – ihre Kinder. Die sind erst drei und fünf Jahre alt. Mit ihnen kniet ein Mann am Boden – ihr Ehemann. Die Kleinen schmücken sein volles, seidenes Haar mit Blumen. Alle lachen – das macht sie glücklich. Links von ihr blühen Tulpen – ihre Lieblingsblumen – das weiß sie ohne hinzuschauen, denn sie hat die Zwiebeln selbst in die weiche Erde gesetzt, das war erst vor ein paar Monaten. Sie steht auf, um die Tulpen zu berühren, ihre zarten Blütenblätter zwischen den Fingern zu spüren. „Der Supermarkt, der macht bald zu“, fällt ihr auf einmal ein, als sie gerade die Hand ausstrecken will, „und es muss noch eingekauft werden.“ Das hat sie versprochen, das muss sie erledigen. Die Tulpen kann sie auch noch bewundern, wenn sie wiederkommt, beschließt sie. Ihr Mann und die Kinder merken nicht, dass sie fortgeht, die sind zu vertieft in ihr Spiel. „Die werden wissen, wo ich bin“, denkt sie, denn sie geht immer Freitagabends einkaufen, schon seit fünf Jahren, jeden Freitag. Das macht sie glücklich, für ihre Familie zu sorgen. Zum Supermarkt nimmt sie den gewohnten Weg. Manchmal trifft sie auf Bekannte, dann bleibt sie stehen und plaudert kurz mit ihnen. Doch heute trifft sie niemanden, den sie kennt, sie weiß auch gar nicht so genau, wen sie denn treffen sollte. Also geht sie einfach weiter, aber auch die Straßen sind ihr heute fremd, lauter, sie erkennt sie nicht wieder. Ist sie verkehrt abgebogen? Sie geht ein paar Schritte zurück zur letzten Kreuzung, die sie überquert hat.
„Mama!“, hört sie plötzlich eine Stimme rufen, „Mama!“ Sie weiß, wem die Stimme gehört, deswegen bleibt sie stehen und schaut sich um, doch sie sieht kein fünfjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen. „Mama, ich bin’s“, sagt da eine junge Frau, die vor ihr stehen geblieben ist und ihr die Hände auf die Schultern gelegt hat. Sie kennt die Frau nicht, nur ihre Stimme kommt ihr bekannt vor. „Ich muss einkaufen gehen. Für meine Familie“, versucht sie zu erklären, „mein Mann und meine Kinder warten.“ Sie beobachtet, wie der jungen Frau Tränen in die blauen Augen steigen – blau wie ihre eigenen – doch sie hält sie zurück. „Komm Mama, wir gehen zurück nach Hause“, sagt sie mit belegter Stimme, „in den Garten zu den Tulpen.“